„Gib mal Adrenalin“
Kindernotfälle sind für Notärzte ein enormer Stressor – weil sie selten sind, die Routine fehlt und Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Das weiß der Entwickler des Pädiatrischen Notfalllineals, Prof. Jost Kaufmann, aus über 6.000 Einsätzen als Notarzt, die er für die Berufsfeuerwehr der Stadt Köln und den ADAC bodengebunden und auf dem Hubschrauber Christoph Rheinland absolviert hat. Hauptberuflich ist Prof. Jost Kaufmann Leitender Oberarzt in der Kinderanästhesie und Leitender Arzt der Endoskopie am Kinderkrankenhaus der Kliniken der Stadt Köln. Im Juli 2022 erhielt er die Professur für Kinderanästhesiologie an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke. Zudem ist er Mitglied der „Kommission für Arzneimitteltherapiesicherheit im Kindesalter – KASK“ der DGKJ sowie der „Kommission für Arzneimittel für Kinder und Jugendliche – KAKJ“ des BfArM. Er ist Initiator und Koordinator der AMWF S2k- Leitlinie “Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“, die – wie auch die ERC-Leitlinien – das Pädiatrische Notfalllineal ausdrücklich empfiehlt. Im Interview gibt Prof. Kaufmann einen Einblick in die Konzeption des Medizinproduktes:
Was hat Sie auf die Idee gebracht, das Kinder-Notfalllineal PädNFL zu entwickeln?
„Eigentlich gab es gleich drei Anstöße für mich, das Lineal zu entwickeln und damit eine längenbezogene Gewichtsschätzung mit gleichzeitigen Dosisempfehlungen für Kindernotfälle. Das waren die gehäufte Beobachtung von Medikamentenfehlern bei Kindernotfällen, die Problematik von nicht präzisen Gewichtsschätzungen durch altersbezogene Formeln und die in der Pädiatrie verwendeten Perzentilenkurven. Alles zusammen hat mich auf die Idee gebracht, ein Lineal zu entwickeln, das am ausgestreckt liegenden Kind angelegt wird und auf dem Segmente aufgedruckt sind, auf denen alters- und gewichtsbezogene Dosisempfehlungen für Notfallmedikamente ohne Berechnungsschritte direkt ablesbar sind.“
Wie sind Sie konzeptionell vorgegangen?
„Die Konzeption wurde vor allem von sechs Themen bestimmt:
- Durch Schätzung des Körpergewichts anhand der Körperlänge unter Nutzung der bekannten Perzentilen (1) erhält man das Normalgewicht, das präziser das tatsächliche (gewogene) Gewicht eines Kindes schätzt, als altersbezogene Formeln. (2)
- Das entscheidende Verteilungsvolumen für Notfallmedikamente stellt das intravasale, extrazelluläre Volumen (EZV) dar. (3)
- Das Normalgewicht korreliert besser mit dem EZV, als das gewogene Gewicht. (4)
- Zur Dosierung von Notfallmedikamenten ist daher das Normalgewicht besser geeignet als das gewogene Gewicht. (5)
- Bei adipösen Kindern kann es bei der Dosierung anhand des gewogenen Gewichtes zur Überdosierung besonders von Analgetika und Sedativa kommen, weswegen auch hier am Normalgewicht dosiert werden sollte. (6)
- Der Berechnung der Dosis kommt die größte Bedeutung für bedrohliche Fehler bei der Medikation von Kindern zu. (7-10)“
Gab es zuvor schon etwas Vergleichbares?
„Das zum Zeitpunkt meiner Entwicklung einzige ähnliche Instrument war das „Broselow-Tape“ aus den USA (Armstrong Medical Industries Inc., Lincolnshire, IL, USA). Das wurde allerdings nie in Europa zugelassen oder vertrieben. Zudem wurde es nur in Simulationsszenarien evaluiert (11), wobei hier zusätzlich nur bezüglich einer Reduktion von Dosierungsfehlern mit einer Abweichung von 20% von der empfohlenen Dosis getestet wurde (12). Solche geringe Abweichungen sind aber klinisch unbedeutsam.
Als weiteren Nachteil habe ich darin gesehen, dass das Tape wichtige Informationen zur Versorgung von Kindern (u. a. passende Größe von Ausrüstungsgegenständen, physiologische Normwerte) lediglich in Begleitheften anbietet. Das ist aus meiner Sicht keine praktikable Lösung. In einer stressigen Notfallsituation in einem Begleitheft wichtige Informationen zu suchen, kann nicht sinnvoll sein. Um eine Lösung für die Praxis zu finden, habe ich 2006 mit der Entwicklung des ,Pädiatrischen Notfalllineals‘ begonnen.“
Bisherige Auszeichnungen für Prof. Jost Kaufmann und das PädNFL:
• Preisträger „Ideenpark Gesundheitswirtschaft“ der Financial Times 2021
• Rudolf-Frey-Preis für Notfallmedizin verliehen von der DGAI 2021
Woher stammen die im Lineal verwendeten Perzentilen zur Größen- und Gewichtsentwicklung?
„Die in Deutschland verwendeten Perzentilen zur Größen- und Gewichtsentwicklung von Kindern stammen aus Erhebungen des amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC), (1) wobei eine in Deutschland aufgelegte große Studie zur Erfassung von epidemiologischen Daten von Kindern („Kinder- und Jugendgesundheitssurvey – KiGGS“, 2003-2006) keine Längen-Gewichts-Relation publiziert hat. (13) In einem persönlichen Gespräch mit dem leitenden Statistiker der Untersuchung (Dr. H. Stolzenberg, Robert-Koch-Institut, Berlin) hat dieser nach Analyse der Rohdaten jedoch bestätigt, dass die entsprechenden Verteilungsdaten des KiGSS identisch mit denen des amerikanischen CDC sind und diese somit zur validen Schätzung des Normalgewichtes auch für die deutschen Kinder verwendet werden können. Mit der Maßgabe, möglichst präzise Gewichtsschätzungen in praktikablen Segmenten zu ermöglichen, konnten mit Unterstützung eines Statistikers (Prof. Dr. rer. medic. Martin Hellmich, Institut für Medizinische Statistik, Informatik und Epidemiologie (IMSIE) der Universität zu Köln) 11 Segmente angepasst an die abnehmende proportionale Gewichtszunahme bei zunehmender Körperlänge so gewählt werden, das maximal 11 % Abweichung vom Idealgewicht auftreten konnten (Tabelle 1). (14) Eine beliebige Anzahl an Segmenten war nicht möglich, denn damit wäre die Fläche jedes einzelnen Segmentes zu klein geworden.“
Worauf haben Sie bei der praktischen Gestaltung des Lineals besonders Wert gelegt?
„Aus meiner eigenen Erfahrung heraus wollte ich den Nutzern vor allem ermöglichen, alle erforderlichen Empfehlungen und Informationen auf jedem Segment direkt abzulesen – ohne weitere eigene Schritte oder das Nachschlagen an einem anderen Ort. Abweichungen bei Medikamentendosierungen in der Dimension von 10 % sind nicht klinisch relevant, weswegen die Präzision der Gewichtsschätzung durch das Lineal in der genannten Form sicher ausreichend ist. Die gewählten Segmente stellten somit einen guten Kompromiss zwischen erforderlicher Präzision und durch die Lesbarkeit bestimmte Praktikabilität dar.“
Die Angaben auf dem Lineal beginnen bei einer Körperlänge von 44 cm. Was ist mit kleineren Kindern?
„Kleinere Kinder als mit einer Körperlänge von 44 cm und einem Gewicht von 2,4 kg sind in der präklinischen Versorgung eher nicht anzutreffen und würden Segmente erforderlich machen, die zu klein sind, um eine Lesbarkeit der Informationen zu gewährleisten. Kinder mit einer Länge von über 140 cm und einem Gewicht von über 30 kg stellen für NotärztInnen, die mit Erwachsenen erfahren sind, keine besondere Herausforderung mehr dar. Daher haben wir entschieden, die Empfehlungen des PädNFLs für den Bereich von 44 cm bis 140 cm Körperlänge anzubieten.“
Was ist außer Länge, Gewicht und Dosierungsempfehlungen zusätzlich vom PädNFL ablesbar?
„In allen genannten Segmenten sind zu den Dosisempfehlungen zu allen relevanten Notfallmedikamenten auch Empfehlungen zu passenden Ausrüstungsgegenständen, z. B. Beatmungsmasken und Endotrachealtuben, und die altersgruppenspezifischen physiologischen Normwerte wie Blutdruck und Herzfrequenz integriert. Außerdem haben wir eine Abbildung und eine Anleitung aufgedruckt, mit denen jeder Mediziner das Lineal sofort nutzen kann.“
MDR/IVDR ist in aller Munde. Ist das Kinder-Notfalllineal ein Medizinprodukt?
„Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat bestätigt, dass das PädNFL bei der Anwendung zur Dosisfindung für Kindernotfälle die Kriterien eines Medizinproduktes erfüllt. Dementsprechend wurden für das PädNFL alle erforderlichen Formalien, die sich aus dem Medizinproduktegesetz (MPG) und der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) gemäß der Richtlinie 93/42/EWG ergeben, erfüllt. Dazu gehören z. B. Konformitätsbewertungsverfahren, Risikobewertung, ein Konzept zum Risikomanagement usw. Das PädNFL ist durch Prof. Dr. Jost Kaufmann als formalen Hersteller bei den zuständigen Stellen (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information – DIMDI, Nr. 0108397) registriert. Zusätzlich zu den dafür erforderlichen Maßnahmen ist das PädNFL durch eine benannte Stelle der Europäischen Union (DQS MED, Identifikationsnummer 0297) zertifiziert und beim Deutschen Marken- und Patentamt mit einem Gebrauchsmusterschutz versehen (DPMA Nr. 202009011884.3).“